Sind die Wähler schuld an mangelnder europäischer Solidarität?

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This post is in German and it was first published by the blog of the German Political Science Association (DVPW). It was written jointly with Philipp Genschel from the (European University Institute).

Eurokrise, Flüchtlingskrise, Brexit, North Stream und Kritik an der EZB, all diese europäischen Themen scheinen auf einen beklagenswerten Mangel an europäischer Solidarität zu deuten. Keiner will die Lasten des anderen tragen, selbst wenn das im langfristigen gemeinsamen Interesse wäre. Woran liegt das? Manche sagen an der Provinzialität und Engstirnigkeit der Wähler, zum Beispiel hat Jean-Claude Juncker einmal behauptet, “Wir Regierungschefs wissen alle, was zu tun ist, aber wir wissen nicht, wie wir danach wiedergewählt werden sollen”. Stimmt das? Sind die Wähler gegen europäische Solidarität?

Solidarität variiert zwischen Politikfeldern

Im vergangenen Jahr haben wir zusammen mit YouGov Bürgerinnen und Bürger aus elf EU-Mitgliedstaaten nach ihrer Einstellung zu europäischer Solidarität befragt. Würden sie die finanzielle oder militärische Unterstützung von anderen Mitgliedstaaten befürworten oder ablehnen, die überschuldet sind, an hoher Arbeitslosigkeit leiden, große Flüchtlingszahlen bewältigen müssen, militärisch angegriffen werden, oder von Naturkatastrophen betroffen sind? Abbildung 1 fasst die Antworten zusammen.

Abbildung 1: Einstellungen zu europäischer Solidarität1

Die gute Nachricht ist, dass die Unterstützung generell höher ist als die Ablehnung. Nur eine Minderheit lehnt transnationale Solidarität in der EU ab. Die schlechte Nachricht ist, dass das Unterstützungsniveau je nach Thema sehr stark schwankt.

Am meisten Unterstützung gibt es für gegenseitige Hilfe bei Naturkatastrophen (meist zu klein, um europäische Solidarität zu erfordern) und militärische Angriffe (eine Kernkompetenz der NATO, nicht der EU). Am wenigsten Unterstützung gibt es für Solidarität bei Überschuldung oder hoher Arbeitslosigkeit – zwei zentrale Themen für Binnenmarkt und Währungsunion. Nur bei der Flüchtlingshilfe finden wir beachtliche Unterstützung in einem politisch wichtigen Bereich.

Interessanterweise ist in Politikfeldern mit eher geringer Solidaritätsbereitschaft die Unsicherheit der Befragten relativ hoch: Viele von ihnen wissen nicht, ob Solidarität mit überschuldeten Staaten gut oder schlecht ist. Diese Unsicherheit eröffnet Raum für politische Diskursführung – pro Solidarität oder dagegen.

Solidarität variiert zwischen Ländern

Verschweigen die europäischen Durchschnittswerte in Abbildung 1 den Blick auf länderübergreifende Unterschiede? Zum Teil, ja. Wie Abbildung 2a zeigt, variiert die durchschnittliche Nettounterstützung (sprich Unterstützung minus Ablehnung ohne Berücksichtigung von weiß nicht) für Solidarität mit Schuldenstaaten stark zwischen zwei verschiedenen Ländergruppen.

Abbildung 2: Durchschnittliche Nettounterstützung für die europäische Solidarität nach Interesse (links: Schulden; rechts: Flüchtlinge)2

Während eine Mehrheit der Befragten aus nordwestlichen Ländern gegen Finanzhilfen für überschuldete Mitgliedstaaten ist (negative Nettounterstützung) – vermutlich weil sie befürchten, dass Heimatland müsse zahlen – sind die Befragten aus südöstlichen Ländern mehrheitlich dafür – vermutlich weil sie erwarten, das eigene Land könne profitieren.

Eine ähnliche Nordwest-Südost-Spaltung finden wir beim Thema Arbeitslosigkeit (nicht dargestellt), aber nicht auf den anderen Politikfeldern. Beispielsweise ist die Nettounterstützung für finanzielle Flüchtlingssolidarität in allen Mitgliedstaaten positiv (einschließlich Polen und Litauen!). Einen erkennbaren Zusammenhang zwischen Solidaritätsbereitschaft und subjektiv empfundenen Verteilungsfolgen für das eigene Land gibt es nicht (Abbildung 2b).

Kurz, es gibt Fälle, in denen die Einstellungen der Wählerinnen und Wähler die europäische Einigung auf gemeinsame Solidaritätsmaßstäbe behindern: Wenn es um Staatsschulden geht, ist im Zweifelsfall jedes von der EU gewählte Maß entweder für die Wähler aus Gläubigerländern zu hoch oder für Wähler aus Schuldnerländern zu niedrig, oder beides. Das ist die schlechte Nachricht.

Die gute Nachricht lautet, dass es bei anderen Themen viel weniger Unterschiede in der nationalen Solidaritätsbereitschaft gibt, z. B. in der Flüchtlingsfrage.

Wie solidarisch sind Rechtspopulisten?

Oft haben politische Minderheiten mit starken Meinungen einen größeren Einfluss auf die politische Agenda als die breite Masse. Daher vergleichen wir zum Abschluss, wie Wähler radikaler rechtspopulistischer Parteien und alle anderen Wähler zu europäischer Solidarität stehen (Abbildung 3).

Abbildung 3: Durchschnittliche Nettounterstützung für Solidarität nach Parteizugehörigkeit: radikale populistische Rechte (RPR) und andere Wähler3

Wie erwartet, sind rechte Wählerinnen und Wähler tendenziell weniger solidarisch als andere. Die Größe der Unterstützungslücke variiert jedoch stark nach Thema: In der Flüchtlingsfrage ist sie sehr groß, bei anderen Themen ist sie kleiner. Rechte sind deutlich fremdenfeindlicher als andere Wähler, aber ansonsten sind ihre Präferenzen nicht allzu extrem. Ihre Unterstützung für militärische Solidarität und Solidarität mit den Opfern von Naturkatastrophen ist positiv und erreicht fast das Unterstützungsniveau anderer Wähler. Man kann die Rechten wahrscheinlich nicht für mehr Flüchtlingssolidarität gewinnen, aber in anderen Fragen ist der Widerstand vielleicht gar nicht so groß.

Die Eliten nach vorn, bitte!

Die YouGov-Daten zeichnen ein komplexes Bild öffentlicher Einstellungen zu europäischer Solidarität. Zumindest aber zeigen sie keinen klaren constraining dissensus. In der Regel überwiegt die Unterstützung.

Die stärkste Ablehnung kommt von denen, die befürchten, die Zeche zahlen zu müssen (bei Solidarität mit überschuldeten Mitgliedstaaten oder Staaten mit hoher Arbeitslosigkeit), und von rechten Wählern, die nichts mit Flüchtlingen zu schaffen haben wollen. Im ersten Fall wird der Dissens allerdings durch Unsicherheit gemildert: Viele Befragte trauen sich kein Urteil zu; im zweiten Fall ist die Ablehnung eine deutliche Minderheitenposition.

Wenn die europäischen Regierungschefs wissen, was zu tun ist, wie Jean-Claude Juncker meint, dann sollten sie sich von unseren Ergebnissen nicht aufhalten lassen. Natürlich gewinnen populistische und nationalistische Strömungen an Einfluss und selbstverständlich sind damit Wahlrisiken verbunden. Solidarität zu verweigern ist aber nicht weniger riskant. Die Bevölkerung ist mehrheitlich proeuropäisch und will eine erfolgreiche EU. Wenn dazu mehr transnationale Solidarität notwendig ist, sollte man das offen sagen. Die Wählerinnen und Wähler würden das womöglich goutieren.

Notiz:

Philipp Genschel bietet zusammen mit Professor Anton Hemerijck eine ausführlichere Diskussion des Themas hier. Weitere Informationen zur Solidarität in Europe sind enthalten in einem Artikel von Björn Bremer, Philipp Genschel und Markus Jachtenfuchs, der in Kürze im Journal of Common Market Studies mit dem folgenden Titel erscheinen wird: ‚Juncker’s curse? Identity, interest and public support for the integration of core state powers.’


  1. Datenquelle: YouGov 2018. Die Abbildung zeigt die durchschnittliche Unterstützung über die Länder hinweg. 

  2. Datenquelle: YouGov 2018. Die Abbildung zeigt das Verhältnis auf Länderebene zwischen der ‚durchschnittlichen Nettounterstützung‘ für horizontale Transfers und der durchschnittlichen Auffassung der Befragten, ob ihr Land Nettoempfänger oder Nettozahler eines EU-Krisenfonds sei. Die Nettounterstützung bezieht sich auf den Durchschnitt der Unterstützer (codiert als 1) und Gegner (codiert als –1) in einem bestimmten Land. Jedes Diagramm enthält eine lineare Regressionslinie und das zugehörige 95-prozentige Konfidenzintervall. 

  3. Datenquelle: YouGov 2018. Die Abbildung zeigt die ‚durchschnittliche Nettounterstützung‘ nach politischer Präferenz in allen Ländern. Die Nettounterstützung bezieht sich auf den Durchschnitt der Unterstützer (codiert als 1) und Gegner (codiert als –1) in einem bestimmten Land. ‚RPR‘ bezieht sich auf Wähler der populistischen Rechtsradikalen; ‚Andere‘ bezieht sich auf alle anderen Wähler.