Geduldig am Abgrund

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This post is in German. It was authored with Nils Redeker and first published by the Jacques Delors Centre in Berlin.

Die EU-Mitgliedstaaten zögern weiter, eine wirklich europäische Antwort auf die Krise zu geben. Damit verspielen sie die derzeit breite öffentliche Zustimmung für europäischer Solidarität.

Der gestrige Gipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs endete weitestgehend ergebnislos. Zwar wurde noch einmal bestätigt, dass es zur Wiederbelebung der Wirtschaft in den Mitgliedsstaaten prinzipiell auch europäische Gelder geben soll. Wie viel Mittel dazu bereitgestellt werden, wer von ihnen profitieren wird und vor allem wie die neuen Ausgaben finanziert werden sollen, darüber war man sich aber weiter uneins. Die Frage, ob die EU-Mitgliedsstaaten die finanziellen Lasten der Corona-Krise und ihrer wirtschaftlichen Folgen zumindest teilweise gemeinsam schultern, wurde damit erst einmal vertagt.

Aus der Perspektive einiger weniger betroffener Mitgliedstaaten wie Deutschland mag dies nicht weiter tragisch scheinen. Schließlich wurde die unmittelbare Gefahr eines Auseinanderbrechens der Eurozone und des Binnenmarkts in den letzten Wochen durch massive Anleihekäufe der EZB vorerst erfolgreich gebannt. Warum sich jetzt also nicht erst einmal vortasten, auf Sicht fahren und Konflikte vermeiden? So plausibel diese Haltung klingt, sie hat einen wichtigen Haken: Langfristig wird die Geldpolitik der EZB alleine nicht reichen. Doch je länger man mit der Entscheidung über eine echte finanziellen Lastenteilung wartet, desto schwieriger wird es werden, sie gerade hierzulande innenpolitisch zu vermitteln.

Dabei sind die politischen Voraussetzungen für ein gemeinsames Schultern der Krisenlast in Deutschland im Moment vielversprechend. Laut Politbarometer sprachen sich Anfang April fast 70 Prozent aller Deutschen dafür aus, dass die EU besonders betroffene Länder in Zeiten von Corona finanziell unterstützen sollte. Noch wichtiger: Momentan bleiben die Deutschen selbst dann solidarisch, wenn aus abstrakter Hilfe konkrete politische Instrumente werden. So zeigt eine neue Umfrage des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung (MPIfG), dass derzeit nur noch ein gutes Drittel gegen die Einführung von gemeinsamen europäischen Anleihen beispielsweise in der Form von Eurobonds wären, sofern sich damit ein Auseinanderbrechen der Eurozone verhindern ließe. In Zeiten von Corona sind entsprechende Instrumente nun selbst unter den traditionell transferskeptischen Anhänger:innen der Unionparteien mehrheitsfähig.

Zur Zeit haben deutschen Entscheidungsträger:innen also weitaus größere politische Handlungsspielräume als man es vermuten könnte. Ausruhen sollten sie sich darauf allerdings nicht. Nach allem, was wir aus der Eurokrise wissen, ist dieser Spielraum nämlich zeitlich äußerst eng begrenzt. Auch in der letzten Krise setzte die EU darauf, Stück für Stück immer nur die Schritte zu gehen, die gerade notwendig waren, um das Schlimmste zu verhindern. Aus einem überschaubaren griechischen Problem wurde dadurch eine europaweite systemische Krise. Bei Wählerinnen und Wählern kam das nicht gut an. Allein zwischen September und Dezember 2010 sank der Anteil derjenigen, die europäische Rettungspakete unterstützen, von fast 50 Prozent auf weniger als ein Drittel. Und während Eurobonds 2012 lediglich von 30 Prozent der deutschen Bevölkerung kritisch gesehen wurden, lehnten sie 2015 mehr als zwei Drittel ab. Vieles spricht dafür, dass eine Salamitaktik in der jetzigen Krise ähnliche Folgen haben könnte.

Das liegt auch daran, dass sich die aktuelle Offenheit für finanzielle Transfers vor allem in der unmittelbaren Erfahrung begründet, wie zufällig das Virus in Europa zugeschlagen hat. Schon in der Eurokrise ging es Kritiker:innen der Rettungspakete nicht hauptsächlich um materielle Besitzstandswahrung. Entscheidender für die Ablehnung war – das zeigen viele empirischen Studien der letzten Jahre – der Eindruck, die Griech:innen, Italiener:innen und Spanier:innen trügen selbst Schuld an der eigenen ökonomischen Misere. Das machte Transferzahlungen in den Augen vieler ungerecht. In der heutigen Pandemie, deren wirtschaftlichen Folgen sich kein Mitgliedsstaat entziehen kann, ist das bisher anders. Je weiter wir uns aber von den Ursachen der aktuellen Probleme entfernen werden, desto wahrscheinlicher wird es, dass sich die öffentliche Debatte auch in dieser Krise wieder auf Fragen von Schuld und Schuldenstände einschießt. Notwendige finanzielle Hilfeleistungen werden dann nur noch schwer zu vermitteln sein.

Schließlich sollte man sich nicht nur mit Blick auf die innenpolitischen Dynamiken in Nordeuropa beeilen. Viel entscheidender für das mittelfristige Überleben des europäischen Projekts scheint die große Wut, die sich in stark betroffenen Ländern wie beispielsweise in Italien derzeit auf Europa zusammenbraut. Auch das machen die neuen Daten des MPIfG deutlich. Obwohl euroskeptische Haltungen in Italien seit langem ansteigen, glaubten die meisten Bürger:innen bisher, dass die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft für sie überwiegen. In der Krise ändert sich das nun rapide. Schon Anfang April gab es eine knappe Mehrheit für den Austritt aus der Eurozone und seither ist die Ablehnung weiter gewachsen. Natürlich mischen sich hierbei berechtigter Unmut mit wirtschaftlicher Verzweiflung und den Auswirkungen populistischer Demagogie. Je länger die EU aber den Eindruck vermittelt, dass sie Italien in dieser historischen Krise nicht beisteht, desto weniger kann sie dieser Ablehnung entgegensetzen.

Wer jetzt aus Rücksicht auf vermeintliche Vorbehalte gegen europäische Transfers in Deutschland auf Zeit spielt, verkennt die politische Stimmung hierzulande. Er riskiert zudem, dass sich krisengebeutelte Staaten endgültig von Europa abwenden. Die wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen wären dramatisch.